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Ein frischer Blick auf jede Aufführung

Die Orchesterwarte zaubern an der Pforte Ost für jede Aufführung ein neues Kreide-Bild

Bayreuth – Festspielhaus – Bühneneingang. Von hier kommen Solisten, Orchester, Chor und den Mitarbeitern der technischen Abteilungen und der Werkstätten ohne komplizierte Umwege zu Garderoben, Stimmzimmern, Chorsälen und Werkstätten, denn all diese sind auf der Ostseite des Komplexes angesiedelt. Und natürlich von dort jeweils auf die Bühne zur Vorstellung. Daher ist hier auch eine wichtige Institution angesiedelt: Die Kreide-Tafel, an der der Titel der Aufführung des Abends angekündigt wird sowie die Anfangszeiten der Akte.

In einer Zeit, in der die Probenpläne im Internet eingesehen und bei Bedarf auf das Smartphone heruntergeladen werden, ist diese „Schultafel“ eine zwar etwas altmodische, aber ungemein effiziente Kommunikationsform: direkt, auf das Wesentliche beschränkt, ohne unnötige Zusatzinformationen und schnell anpassbar. Fast jeder Mitarbeiter, der unmittelbar mit der Aufführung zu tun hat, kommt auf seinem Weg ins Festspielhaus hier vorbei und kann sich in Hinblick auf die zeitlichen Eckpunkte vergewissern. Und diese werden in Bayreuth nicht ohne Charme und Fantasie kommuniziert: Die Orchesterwarte des Festspielorchesters, in deren Händen die Betreuung liegt, lassen hier ihrer Kreativität freien Lauf – und kommen zu überraschenden, manchmal ziemlich verschlüsselten Bildfindungen.

Es wird in der ersten Festspielwoche augenfällig. In der Generalproben-Woche war alles konventionell anmalt: Lohengrin – 16.00 Uhr – 18.05 Uhr – 20.55 Uhr, beispielsweise. In der Premierenwoche hingegen kommt es schon etwas überraschend: „Lohengrins Vater“ steht da plötzlich an einem Abend geschrieben. Ein unentdecktes Werk Wagners? Wohl kaum, die Gralserzählung aus Lohengrin verrät es „… mein Vater Parsifal trägt seine Krone, sein Ritter ich – bin Lohengrin genannt.“ Und es geht abwechslungsreich weiter: Die manchmal verblüffend einfachen, manchmal sehr komplexen Bildfindungen zaubern ein Lächeln auf das Gesicht manch eines Vorbeieilenden.

Die Gestaltung dieser Tafel hat Tradition, erzählt Roland Schneider, der in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Julian Klein für die kreative Gestaltung der Tafel verantwortlich zeichnet. Und jeder Orchesterwart, der damit betraut ist, hat den Ehrgeiz, sich möglichst nicht zu wiederholen. „Insgesamt,“  betont Roland. „Nicht nur in einer Saison.“ Er arbeitet inzwischen in der dritten Saison in Bayreuth, auch an der Tafel – da gehen ihm schon manchmal die spontanen Ideen aus und er muss sich im Internet inspirieren lassen. Und entdeckt dann beispielsweise den norwegischen „Lohengrin“-Schokoriegel, der die Form eines Knochens hat, oder den Mercedes Benz „Parsifal“ aus dem Jahr 1902. Diese als Kreidebild dargestellt – das erkennen natürlich die wenigsten: „Wir freuen uns immer, wenn wir die Leute zum Grübeln bringen. Manchmal schreiben wir aber gleich dazu, was des Rätsels Lösung ist. Das erweitert dann trotzdem den Horizont.“ Manchmal verweist er auch auf die Inszenierung: „Für Parsifal habe ich einen Wegweiser in drei Richtungen entworfen: Gralsburg – Zaubergarten – Bonn. Das letzte Szenenbild in der Herheim-Inszenierung ist dem alten Bonner Bundestag nachempfunden.“ Die Anfangszeiten waren entsprechend in Kilometer-Angaben „umgewandelt“. Die seiner Meinung nach schönste Bildfindung dieser Saison bisher hatte Roland für Tristan und Isolde: „Den berühmten Tristan-Akkord als Noten – das war gar nicht so einfach, in Kreide. Aber mit unterschiedlichen Farben hat es dann funktioniert.“

Die Betreuung der Tafel ist allerdings eine eher nebensächliche Aufgabe der beiden Bayreuther Orchesterwarte. Hauptamtlich kümmern sie sich um den optimalen Zustand des Orchestergrabens: Sie stellen sicher, dass Stühle und Notenpulte korrekt aufgebaut sind – der Besetzung der Oper entsprechend, auch bei den Orchesterproben außerhalb des Grabens. Sie sorgen dafür, dass die großen Instrumente an ihren Plätzen stehen und dass alle Instrumentenständer vorbereitet sind, denn nicht jedes Instrument wird die ganze Zeit gespielt und manche Musiker spielen in einer Aufführung mehrere Instrumente. Sie achten darauf, dass die korrekten Noten am Pult liegen und nachher vollständig zurück in das Archiv kommen. Auch für die Vorbereitung des Dirigentenpults sind sie verantwortlich: Partitur, Stab und der Anzug für den Abstecher auf die Bühne zum Applaus. Doch nicht nur im Orchestergraben haben sie Aufgaben, auch auf der Bühne: Sie bereiten die Einsatzorte für die Bühnenmusik mit Pulten, Licht und Noten vor. In den seltenen Fällen, wo ein Sänger-Cover von der Seite singen muss, stellen sie dies ebenfalls bereit. In vielen Aufführungen werden sie außerdem selbst musikalisch aktiv: Roland Schneider und sein Kollege Julian Klein studieren beide Schlagzeug in Leipzig bzw. Hamburg. Auch das kein Zufall: „In einigen Opern kommt Schlagzeug-Bühnenmusik vor – aber meist nur wenige Takte. Das übernehmen wir zusätzlich. Die normalen Schlagzeuger werden im Graben gebraucht, daher sind die Orchesterwarte traditionell Schlagzeuger.“ Und irgendwie sind sie auch „Mädchen für alles“: „Wenn es Probleme im Orchestergraben gibt, die eher praktischer Natur sind – vom wackelnden Pult bis hin zur knarrenden Stuhl – sind wir meist die Ansprechpartner und versuchen zusammen mit den Kollegen aus den Werkstätten oder gegebenenfalls mit der Orchesterdirektion eine schnelle und praktikable Lösung zu finden.“

Mehr über die Orchesterwarte auch im Podcast-Beitrag „Unter Tage“ von 2010.