Die Meistersinger von Nürnberg
Besetzung 2019
Musikalische Leitung | |
Regie | |
Bühne | |
Kostüm | |
Chorleitung | |
Dramaturgie | |
Licht |
Hans Sachs, Schuster | |
Veit Pogner, Goldschmied | |
Kunz Vogelgesang, Kürschner | |
Konrad Nachtigal, Spengler | |
Sixtus Beckmesser, Stadtschreiber |
Martin Gantner
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Fritz Kothner, Bäcker | |
Balthasar Zorn, Zinngießer | |
Ulrich Eisslinger, Würzkrämer | |
Augustin Moser, Schneider | |
Hermann Ortel, Seifensieder |
Ralf Lukas
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Hans Schwarz, Strumpfwirker | |
Hans Foltz, Kupferschmied | |
Walther von Stolzing | |
David, Sachsens Lehrbube | |
Eva, Pogners Tochter |
Emily Magee
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Magdalene, Evas Amme | |
Ein Nachtwächter |
(1) Schläft ein R. in allen Dingen – (2) R., der Liebende – (3) R., der Theaterbesessene – (4) R., der Politische – (5) R., der Antisemit – (6) B., ein Jude? – (7) N., ein Paradies – (8) Angeklagter R. Wagner
Die Programmhefttexte von Ulrich Lenz werden Jahr für Jahr erweitert.
(1) Schläft ein R. in allen Dingen …
oder
Wie viel Richard ist in den Meistersingern?
„Ich habe nur den Irrtum begangen, Kunst und Leben zu verwechseln.“ Mit dieser lapidaren Feststellung versucht Wagner in seiner 1864 entstandenen Schrift Über Staat und Religion auf den Punkt zu bringen, was er zuvor in wortreichen Argumentationen dargelegt hat: Dass all die von ihm veröffentlichten Aufsätze und Essays zu politischen Themen der vergangenen Jahrzehnte letztlich nicht mehr waren als die Ideen eines im Grunde unpolitischen Künstlers. „Wer mir aber die Rolle eines politischen Revolutionärs […] zugeteilt hat, wusste offenbar gar nichts von mir, und urteilte nach einem äußeren Schein der Umstände, der wohl einen Polizeiaktuar, nicht aber einen Staatsmann irreführen sollte.“ Derlei Argumentation ist – wie so oft bei Wagner – nicht ohne Hintergedanken: Die genannte Schrift entstand auf Veranlassung des jungen Bayernkönigs Ludwig II., der den Komponisten kurz zuvor zu sich nach München gerufen hatte. Neuerdings also in königlichen Diensten stehend, galt es, die revolutionäre Vergangenheit, die den steckbrieflich gesuchten Wagner immerhin elf Jahre lang ins Exil gezwungen hatten, in verändertem Lichte zu beleuchten, ohne dabei jedoch irgendetwas von dem Gesagten oder Geschriebenen zurücknehmen zu müssen.
In Wagners durchaus brillant zu nennender Volte, in der er den politischen Agitator Wagner sich geschickt hinter dem Künstler Wagner wegducken lässt, liegt zweifelsohne auch ein Stückchen Wahrheit. Doch scheint es angemessener zu konstatieren, dass Wagner Kunst und Leben nicht etwa verwechselt hat. Vielmehr vermischen sich Kunst und Leben bei ihm wie bei kaum einem anderen Komponisten in einer Weise, die es schwer macht, das eine vom anderen zu trennen. Und dies scheint keinesfalls die Folge eines unachtsam begangenen „Irrtums“ zu sein, wie Wagner glauben machen will, sondern in vielerlei Hinsicht einer Grundüberzeugung Wagners entsprungen, der nicht nur mit seiner Kunst auf das (politische) Leben seiner Zeit einwirken wollte, sondern umgekehrt auch sein Leben zum Kunstwerk stilisierte. Kein anderer Komponist der Musikgeschichte hat sich so umfangreich zu allen Belangen des gesellschaftlichen Lebens, zu den politischen Ereignissen seiner Zeit geäußert wie Wagner. Kein anderer Komponist hat sich zu seinem Schaffen so direkt und unmittelbar von realen Erlebnissen seines privaten Lebens inspirieren lassen wie Wagner – und auch genau darüber wiederum umfangreich Zeugnis abgelegt. Seine Reisen, seine amourösen Abenteuer, ja, sein Künstlerdasein an sich finden einen gleichsam osmotischen Eingang in sein Theater. Umgekehrt wird sein Leben, sein Alltag zur „bühnenreifen“ Aufführung: Die Berichte von Zeitgenossen belegen, wie Wagner in einer Art endloser One-man-show fortwährend am Vorlesen, Vortragen, Vorspielen, Vorsingen – neudeutsch würde man sagen: am Performen – war. Alles, auch das Banalste wird theatralisiert – und geht am Ende wieder in sein Werk ein. Wagners künstlerische und politische Ansichten finden ihren Niederschlag sowohl in hunderten Seiten Pamphleten, Essays und theoretischen Schriften als auch in seinen Musiktheaterwerken. All sein Tun und Schaffen ist autobiographisch durchdrungen, hinter jeder Note seiner Partituren, jedem Wort seiner Schriften steht das Ego eines Mannes, der sich autoritativ geäußert hat zu allem, was ihn umgeben hat. Ist gemeinhin Vorsicht geboten bei der Verbindung von biographischen Daten mit dem Werk eines Künstlers, so scheint Wagner selbst in seiner Person und seinen Äußerungen dazu aufzufordern, den Künstler nicht vom Menschen, den Kunsttheoretiker und politischen Denker nicht vom Komponisten zu trennen. Schließlich hat Wagner selbst in den von ihm herausgegebenen Sämtlichen Schriften und Dichtungen Opernlibretti, Autobiographisches, Kunsttheoretisches und Politisches bunt gemischt. Um seine Werke in ihrer ganzen politischen und philosophischen Tragweite zu erfassen, scheint es daher angemessen, sie immer wieder von Neuem aus der Perspektive Wagners, einer Person des öffentlichen Lebens seiner Zeit, zu betrachten.
Gerade Die Meistersinger von Nürnberg sind voll von reichhaltigen Bezügen zu den Ereignissen in Wagners Leben, zu seiner Kunstanschauung und – mehr vielleicht als in all seinen anderen Werken – zu seinen politischen Ansichten. Schließlich fällt die Entstehungszeit des Werkes in eine Zeit großer politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, an deren Ende die von vielen Zeitgenossen so lang ersehnte Einigung Deutschlands mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs steht. Parallel wächst und gedeiht etwas für den Menschen Wagner enorm Bedeutsames, sein weiteres Leben zutiefst Veränderndes: die Beziehung mit der 24 Jahre jüngeren Cosima von Bülow, die zwei Jahre nach der Uraufführung der Meistersinger durch die Eheschließung auch offiziell besiegelt wird. Sie bleibt bis zu seinem Tode die Frau an seiner Seite – Geliebte, Mutter seiner Kinder, Sekretärin und Hausherrin von Wahnfried in einer Person. Mit seinem einzigartigen theatralischen Gespür erschafft Wagner aus den eigenen Liebesempfindungen, politischen Einstellungen und Kunstanschauungen ein auch innerhalb seines Schaffens singulär dastehendes Werk, die deutscheste und zugleich selbstreferentiellste seiner Opern.
(2) „Ich habe die Eva geheiratet“ – R., der Liebende
Da hätt ich Kind und auch ein Weib
Die ruhig mir im Haus verbleib?
Ja ja das hat sie schön erdacht,
Dem Meister drob das Herze lacht.
Hans Sachs.
Richard Wagner an Cosima von Bülow, 9. März 1867
Obwohl Cosima an der Seite ihres Vaters Franz Liszt Richard Wagner bereits 1853 im Alter von 16 Jahren zum ersten Mal begegnet war und es auch in den folgenden Jahren immer wieder zu Begegnungen kam, zumeist an der Seite ihres Mannes, des Dirigenten und Wagner-Bewunderers Hans von Bülow, scheint ein erster Liebesfunke erst im Jahre 1861 bei einer flüchtigen Begegnung in Bad Reichenhall übergesprungen sein, als Wagner zum Abschied dem „fast scheu fragenden“ Blick Cosimas begegnete (Wagner, Mein Leben). Im Juli des folgenden Jahres besuchen die von Bülows Wagner in seinem Domizil in Biebrich am Rhein, gegenüber der Stadt Mainz, wo Verleger Schott ungeduldig auf die Meistersinger wartet, deren rasche Vollendung Wagner (gegen großzügige Vorschusszahlungen) versprochen hat. (Der Verleger sollte noch weitere sechs Jahre warten müssen.) Nur wenig mehr als ein Jahr später kommt es dann zu jenem denkwürdigen Treueschwur zwischen Wagner und Cosima bei einer Kutschfahrt durch Berlin – ohne Hans von Bülow, der zuhause geblieben ist, um sich auf ein von ihm geleitetes Konzert vorzubereiten. „Diesmal ging uns schweigend der Scherz aus“, berichtet Wagner in Mein Leben. „Wir blickten uns stumm in die Augen, und ein heftiges Verlangen nach eingestandener Wahrheit übermannte uns zu dem keiner Worte bedürfenden Bekenntnis, uns einzig gegenseitig anzugehören. Uns war Erleichterung geworden.“ Die Tagebücher Cosimas belegen, dass auch in späteren Jahren dieser denkwürdige Tag, der 28. November, stets im gemeinsamen Gedenken gefeiert wurde.
Bis Richard und Cosima dieses Bekenntnis zueinander jedoch offen leben konnten, sollten noch einige Jahre vergehen – die Jahre der Entstehung der Meistersinger, deren lokale Fixpunkte München und Tribschen heißen. In München führte Cosima ein Doppelleben zwischen den beiden Haushalten ihres Mannes Hans und ihres Geliebten Richard, dem sie 1865 die Tochter Isolde schenkte, die offiziell jedoch als Tochter von Bülows galt. Mit Wagners Weggang aus München und dem Umzug nach Tribschen am Vierwaldstätter See, dem sich auch Cosima mit ihren drei Kindern anschloss, kam ein wenig Ruhe in die Beziehung. Gleichwohl musste nach außen hin weiterhin der Schein gewahrt werden. In Tribschen kam Richards und Cosimas zweite Tochter zur Welt, die nicht von ungefähr den Namen der weiblichen Hauptfigur der Meistersinger trägt, stand Wagner doch kurz vor der Vollendung der Komposition.
Hatten zu Beginn der Arbeit durchaus noch andere Frauen als Inspirationsquellen für die Eva der Meistersinger gedient und hatte in der Anfangszeit sicherlich auch der endgültige innere Verzicht auf die unerreichte, unerreichbare Mathilde Wesendonck die Arbeit an der Figur des ebenfalls Verzicht leistenden Schuster-Poeten Hans Sachs beflügelt, so wurde im Laufe der weiteren Kompositionsarbeit Cosima zur zentralen Frauenfigur in Wagners Leben (eine lange Jahre ebenfalls von ständig neuem Verzicht gezeichnete Beziehung). Zahlreiche Briefe und Telegramme Wagners an Cosima aus jenen Jahren sind bezeichnenderweise mit „Sachs“ oder sogar „Hans Sachs“ unterzeichnet. „Wie Rub.[instein] das Vorspiel zum 3ten Akt [der Meistersinger] gespielt hat und die erste Scene“, schreibt Cosima unter dem 15. Februar 1881 in ihr Tagebuch, „sagt mir R.: ,H. Sachs hat die Eva geheiratet’, steht auf und erklärt: ,In der ersten Scene steckt das ganze Verhältnis der deutschen Kunst’, was die andren nicht verstehen, und läßt noch einmal spielen und singt bis zum Preislied. […] ,Das paßt alles nicht’, sagt er, ,ich habe die Eva geheiratet.’ – Ich: ,Aber nach Herwegh’s Aussage bist du Sachs und Walther zugleich, und nach mir bist du alles, Tristan und Marke, Lohengrin und Parsifal’ […].“ Dass Wagner sich mit den männlichen Helden seiner Opern in hohem Maße identifizierte, ist weithin bekannt. Dass er seine Liebesbeziehung zu Cosima in der Beziehung zwischen Sachs und Eva spiegelt, ist Teil der eingangs erwähnten so Wagner-typischen Vermischung von Kunst und Leben. Bemerkenswert ist aber, dass Wagner nicht nur einen „Avatar“ innerhalb der Meistersinger besitzt, sondern gleich zwei (oder gar drei?): Wagner sieht sich ebenso als weiser, Verzicht leistender Sachs wie er sich als junger, um die Hand Evas ringender Walther von Stolzing sieht (und möglicherweise obendrein als allzu vorlauter, besserwisserischer Lehrbube David). In der Selbstspiegelung als Komponist wäre Walther der Wagner der mittleren, von jugendlichem Sturm und Drang gezeichneten Schaffensperiode, der Wagner also des Fliegenden Holländer, Tannhäuser und Lohengrin, wohingegen Sachs der reifere, in seiner Meisterschaft gewachsene Wagner des Rings, des Tristan und der Meistersinger ist. (Und David wäre in diesem Gedankenspiel der frühe noch unreif herumprobierende Wagner der Feen, des Liebesverbots und des Rienzi.) Handlungsebene und Kunstdeutung, Biographie und die eigene kompositorische Entwicklung werden in uneindeutiger Weise in Beziehung zueinander gesetzt. „Das passt alles nicht, ich habe die Eva geheiratet.“ Redet Wagner nun von seinen im Werk gespiegelten Kunstanschauungen oder von sich und Cosima? Letztere verweist auf Wagners Identifikation mit Sachs und Walther. Daher haben sowohl Sachs als auch Walther Eva geheiratet, beide haben sich mit ihrer Kunst den Preis errungen. Sachs und Walther sind demnach Kunst und Künstler zugleich, Liebhaber und Nebenbuhler um die wahre Kunst ebenso wie um die Frau, die als Preis für die beste Kunstdarbietung ausgesetzt ist. Eva ist idealisierte Muse und real begehrenswerte Frau zugleich, „hehrstes Weib des Parnass“ und „schönstes Weib im Paradies“. In den Meistersingern wird „die Kunst zu ihrem eigenen Sujet“, schreibt Martin Gregor-Dellin in seiner Wagner-Monographie. „Insofern sind die Meistersinger auch Selbstinterpretation einer Kunst, die noch um ihre Anerkennung ringt, aber in zweierlei Hinsicht, denn Wagners Ich war gespalten, wie im Erotischen, so im Künstlerischen: in Stolzing und Sachs, Selbstrechtfertigung und Selbstfeier.“
(3) „Vorhang auf für mich!“ – R., der Theaterbesessene
„Wagner weiß und glaubt es nicht, wie er anstrengt. […] Von sich sprechen, lesen, singen muss unser großer Freund, sonst ist ihm nicht wohl.“
Peter Cornelius an Josef Standhartner, 24. Januar 1865
Schon von frühesten Kindertagen an ist klein Richard mit Leib und Seele Theaterimpresario: Er schreibt Stücke, sorgt für Ausstattung und Inszenierung und bringt sie zur Aufführung. Für das Puppentheater, das ihm sein Stiefvater Ludwig Geyer hinterlassen hat, schnitzt er sich, so erzählt er selbst es in Mein Leben, die Puppen zurecht und schneidert ihnen aus Stoffresten Kostüme. Als Heranwachsender versucht er sich auch an Inszenierungen mit Darstellern aus Fleisch und Blut: Schulfreunde werden als Mitwirkende herangezogen und erneut kümmert sich Direktor und Regisseur Wagner selbst um die Anfertigung sämtlicher Requisiten und legt gesteigerten Wert auf jedes noch so kleine Detail.
Diese kindliche Spielfreude und an Besessenheit grenzende Leidenschaft, mit der Wagner sich und sein Werk in Szene setzt, wird den Komponisten bis zu seinem Tode nicht verlassen. Er ist der beste Präsentator seiner eigenen Arbeiten, denn niemand vermag seine Werke mit solcher Emphase und auf so plastische Weise vorzutragen wie Wagner selbst. Die Lesung eines seiner Libretti durch Wagner wird zum faszinierenden Kopftheater für die Zuhörer. Man mag sich das einmal plastisch vorstellen: ein kleines Publikum von maximal 10 bis 15 Personen, still auf Stühlen sitzend, lauscht gebannt dem Vortrag eines einzigen Mannes, der in alle Rollen seines eigenen Stückes schlüpft, halb lesend, halb auswendig rezitierend, dabei immer wieder auch szenisch agierend. Und das ganze Spektakel dauert nicht etwa eine Stunde. Bei der Länge der Wagnerschen Operntexte und der Annahme, dass Wagner auch die zum Teil ausführlichen Szenenanweisungen vorgelesen haben wird, hat die Lesung des Meistersinger-Librettos am 5. Februar 1862 in den Räumen des Verlagshauses Schott in Mainz sicherlich mehrere Stunden in Anspruch genommen. Der Komponist, Kapellmeister und Wagner-Freund Wendelin Weißheimer, in jenem Jahr Musikdirektor am Stadttheater in Mainz, berichtet in seinen Erlebnissen mit Richard Wagner, Franz Liszt und vielen anderen Zeitgenossen sehr eindrücklich von dieser „Vorlesung, die sicherlich keiner der Anwesenden während seines Lebens vergessen haben wird. Die Modulationsfähigkeit seiner [Wagners] Stimme war so groß, dass er bald nicht mehr nötig hatte, die Namen der handelnden Personen einzeln zu nennen. Jeder wusste gleich: das ist jetzt Eva, Stolzing, Sachs oder Pogner, die da reden, und gar erst bei David und Beckmesser war in seinem Stimmklang jede Verwechslung mit den andern absolut ausgeschlossen. Selbst in dem lebhaften Durcheinandergerede der Meistersinger hob sich jeder von dem andern so deutlich ab, dass man schon ein förmliches Ensemble zu hören glaubte, das die Zuhörer mit sich fortriss und sie zu stürmischen Kundgebungen veranlasste. Mehrmals musste er warten, bis diese sich wieder gelegt hatten, eh’ er in seiner Virtuosenleistung (denn eine solche war es im eminentesten Sinne des Worts!) wieder fortfahren konnte.“
Wagner wird nicht müde, derlei „Inszenierungen“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu wiederholen. Nur knapp zehn Monate nach der denkwürdigen Lesung in Mainz finden wir ihn in Wien im Hause des befreundeten Arztes und Sängers Josef Standhartner erneut das kürzlich vollendete Libretto vorlesen und -spielen. Unter den Zuhörern ist dieses Mal auch der einflussreiche Kritiker Eduard Hanslick. Ob er sich tatsächlich in der Figur Beckmessers wiedererkannt hat, wie manche berichten, oder ob jemand der Anwesenden ihm zugeraunt hat, dass der Merker in der letzten Fassung des Entwurfs noch „Hanslich“ geheißen hatte, ist nicht mehr feststellbar. Dass Hanslicks Äußerungen über Wagner just nach jener Lesung feindseliger geworden seien, ist eine der vielen von Wagner selbst in die Welt gesetzten Legenden.
Freilich dienten all diese Lesungen zunächst und vor allem der Werbung für das neue Werk. Doch es scheint für Wagner alles andere als eine Pflichtübung gewesen zu sein, seine Spiellust hat ihm offensichtlich ein noch größeres Vergnügen als seiner Zuhörerschaft bereitet, und das immer wieder aufs Neue. Gleich bei ihrer allerersten Begegnung im November 1868 in Leipzig (fünf Monate nach der Münchner Uraufführung der Meistersinger) beeindruckt Wagner den jungen Philologiestudenten Friedrich Nietzsche durch einen ähnlichen, in diesem Falle musikalisch-szenischen Vortrag: „Vor und nach Tisch spielte Wagner alle wichtigen Stellen der Meistersinger, indem er alle Stimmen imitierte und dabei sehr ausgelassen war“, berichtet Nietzsche in einem Brief an seinen Kommilitonen Erwin Rohde und fügt noch hinzu: „Er ist nämlich ein fabelhaft lebhafter und feuriger Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft dieser privatesten Art ganz heiter macht.“ Wagners vielfach bezeugte, von seinem Selbstdarstellungsdrang befeuerte Spiellaune stellt eine ebenso emotionale wie performative Verbindung zwischen seiner Person und den Protagonisten seiner Stücke her. Es scheint nicht falsch zu sein, in jeder Figur seines Œuvres „ein bisschen Wagner“ zu vermuten.
(4) „Was ist deutsch?“ – R., der Politische
Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist’s Nibelheim, Krähwinkelland?
Ist’s wo der Jud’ sich mausig macht,
der Lump sich kühn ins Fäustchen lacht?
Ist’s, wo man ernst und tief sich preis’t,
mit Nachbars Wegwurf doch sich speis’t?
Wo Mittelmäßigkeit gedeiht,
dem Edlen man ins Antlitz speit?
Wo hundert Jahr man alt muß sein,
eh’ Anerkennung sich stellt ein?
Wo dem, den sie zu tot gehetzt,
man Reden hält und Standbild setzt?
O ja! O ja! Ja! Ja!
Sein Vaterland, da ist es, da! —
Richard Wagner, Juli 1863
Mag Wagner selbst auch bisweilen – aus Eigennutz und Opportunismus – seine Rolle in den politischen Umwälzungen seiner Zeit herunterspielen, gehört er doch ohne jeglichen Zweifel zu den politisch aktivsten Komponisten der Musikgeschichte. Gerade in den 1860er Jahren, den Jahren der Entstehung der Meistersinger, nimmt Wagners politisches Engagement wieder zu. Zum einen, weil der aufgrund seiner Beteiligung am Dresdener Maiaufstand 1849 steckbrieflich gesuchte Komponist nach 11-jährigem Exil am 12. August 1860 zum ersten Mal wieder deutschen Boden betreten kann. Zum anderen, weil die politischen Ereignisse genau dieses Jahrzehnts immer wieder um die Einigung des seit 1806 in zahllose Einzelstaaten zerfallenen Deutschen Reiches kreisen. Zudem wird Wagner 1864 vom jungen bayerischen König Ludwig II. nach München gerufen. Im regen Austausch mit dem königlichen Bewunderer seiner Musik gewinnt Wagner nicht nur in künstlerischen Fragen Einfluss auf den Monarchen. Bis hin zu Entlassungen und Regierungsumbildungen versucht er, Ludwig II. zu drängen, und schafft sich damit in der Staatsregierung des Königs zahlreiche Feinde, die schließlich seine Ausweisung aus Bayern erwirken.
Das Kräfteringen zwischen Preußen und dem Habsburgerreich um die Vorherrschaft im Deutschen Bund wird in drei Kriegen – Deutsch-Dänischer Krieg 1864, Deutscher Krieg 1866 und Deutsch-Französischer Krieg 1870/71 – ausgetragen und endet mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs unter der Führung Preußens (und unter Ausschluss Österreichs). Nicht zufällig beschäftigt sich Wagner ausgerechnet in diesen politisch so bewegten Zeiten in zahlreichen seiner Schriften intensiv mit der Frage nach einer deutschen Identität. Zwar wurde die Schrift Was ist deutsch? erst 1878 in den Bayreuther Blättern veröffentlicht, entstanden ist der Text aber bereits 1865 in Form von Tagebuchnotizen für Ludwig II. Ab September 1867 erscheint in der Süddeutschen Presse die auf 15 Folgen geplante Abhandlung Deutsche Kunst und deutsche Politik. Nach der 13. Folge wird die Veröffentlichung jedoch eingestellt, möglicherweise auf Veranlassung des Königs, der die provokanten Ausführungen seines Protegés nicht länger tragen kann. Wie kein anderes Bühnenwerk Richard Wagners ist die genau in jenen so bewegten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene Oper Spiegel und Manifest seiner Gedanken zur Frage deutscher Identität und deutscher Einheit (im politischen wie im kulturellen Sinne): Die Meistersinger von Nürnberg.
Die Frage, was deutsch sei, beantwortet Wagner in seinen Schriften vor allem aus der Abgrenzung von dem, was nicht deutsch ist. Mit dem Kollektivnamen „Deutschland“ sind laut Wagner „diejenigen Völker bezeichnet, welche, in ihren Ursitzen verbleibend, ihre Urmuttersprache fortredeten, während die in den ehemaligen romanischen Ländern herrschenden Stämme die Muttersprache aufgaben. An der Sprache und der Urheimat haftet daher der Begriff ,deutsch’, und es trat die Zeit ein, wo diese ,Deutschen’ des Vorteils der Treue gegen ihre Heimat und ihre Sprache sich bewusst werden konnten; denn aus dem Schoße dieser Heimat ging Jahrhunderte hindurch die unversiegliche Erneuerung und Erfrischung der bald in Verfall geratenden ausländischen Stämme hervor.“ (Was ist deutsch?) Der von Wagner immer wieder zitierte „deutsche Geist“ zeichnet sich also zuallererst dadurch aus, dass er durch die Jahrhunderte hindurch „sich treu“, d. h. von fremden Einflüssen unbeschadet und „rein“ geblieben ist und so immer wieder als Quell der Erneuerung, auch für andere Völker, dienen konnte. „Genau betrachtet war seit der Regeneration des europäischen Völkerblutes der Deutsche der Schöpfer und Erfinder, der Romane der Bildner und Ausbeuter: der wahre Quell fortwährender Erneuerung blieb das deutsche Wesen.“ (Deutsche Kunst und deutsche Politik) Wie man derlei Argumentationen auch dreht und wendet, man kommt nicht umhin, einen darin ausgedrückten Überlegenheitsanspruch zu konstatieren. Freilich stand Wagner mit solchen Theorien in seiner Zeit nicht alleine da.
An fremden – verderblichen – Einflüssen fehlte es gleichwohl auch in Deutschland nicht. Der Einfluss der romanischen Kultur drängte, so Wagner, seit dem 16. Jahrhundert den deutschen Geist immer mehr ins Abseits, vor allem an den Fürstenhöfen, an denen französische Kultur und Lebensart Einzug hielten: „Vollständig gelang dieses Unterjochungsmittel im vorigen Jahrhunderte [gemeint ist also das 18. Jahrhundert], wo wir mit Erröten sehen, dass deutsche Fürsten mit zugesandten französischen Tänzerinnen und italienischen Sängern in nicht viel ehrender Weise gefangen und dem deutschen Volke entfremdet wurden, wie noch heute wilde Negerfürsten durch Glasperlen und klingende Schellen betört werden.“ (Deutsche Kunst und deutsche Politik) Der in Nürnberg geborene und wirkende Renaissance-Künstler Albrecht Dürer verkörpert in den Augen Wagners den wahren, unverfälschten „deutschen Geist“. Dass Dürer seinen Malstil durch seine Begegnung mit der italienischen Kunst entwickelte, verschweigt Wagner freilich.
Auch die Reformation reklamiert Wagner als eine rein deutsche Errungenschaft, zu der auch der protestantische Choral zu rechnen ist: „Dieser Gesang […] darf und muss ausschließlich als deutsches Eigentum angesehen werden. In Wahrheit trägt auch die künstlerische Konstruktion des Chorals ganz den Charakter deutscher Kunst; […].“ (Über deutsches Musikwesen) Es ist also alles andere als beliebig, dass das einzige Originalzitat aus dem umfangreichen Œuvre des Hans Sachs, das Wagner in seine Meistersinger übernimmt, der Beginn von dessen Gedicht auf Martin Luther „Wach auf, es nahet gen den Tag“ – ist und mehr als nur die Idee eines effektvollen Beginns, wenn Wagner seine Oper nach der klanggewaltigen Ouvertüre mit einem nur von der Orgel begleiteten vierstimmigen Choral beginnen lässt. Freilich wird damit vordergründig der Schauplatz des folgenden Aufzugs klanglich umrissen. Doch dass Wagner das deutscheste seiner Musikdramen mit einem an Bach erinnernden protestantischen Choral beginnt, ist durchaus auch als (politisches) Statement zu verstehen. Wagners Beschäftigung mit dem Werk Johann Sebastian Bachs, den er als „Vorläufer“ der eigenen Kunst ansieht, findet hier ihren deutlichsten Niederschlag. Während „die großen und kleinen Höfe der deutschen Fürsten von italienischen Opernkomponisten und Virtuosen [wimmelten], die man mit ungeheuren Opfern dazu erkaufte, dem verachteten Deutschland den Abfall einer Kunst zu Besten zu geben, welcher heut’ zu Tage nicht die mildeste Beachtung mehr geschenkt werden kann“, trat „Bachs Geist, der deutsche Geist, aus dem Mysterium der wunderbarsten Musik, seiner Neugeburtsstätte, hervor.“ (Was ist deutsch?) Der deutsche Geist, so Wagner, hat sich, allen Angriffen von außen und innen trotzend, im deutschen Volk bewahrt. Wagner konstruiert in seinen Gedanken über Deutschtum zum einen die Theorie eines im 16. Jahrhunderts ihren Ausgang nehmenden, bis ins 19. Jahrhundert hinein anhaltenden Verfalls der deutschen Kultur. Mit dem Verlust einstiger Größe wird dabei stets auch das Bild eines verloren gegangenen Paradieses impliziert, ein Konzept, das gerade auch mit der Bedeutung, die die Stadt Nürnberg im 19. Jahrhundert erhält, in Zusammenhang steht (siehe weiter unten). Zum anderen entwirft Wagner das Bild einer tief liegenden Entfremdung zwischen dem deutschen Volk und seinen unter „welschen“, d. h. romanischen, also italienischen oder französischen Einflüssen stehenden adligen Führern. Er endet seine Schrift Was ist deutsch? mit einem Aufruf an die Fürsten Deutschlands, ihrer historischen Aufgabe bewusst zu werden und wieder mit und für das deutsche Volk und den vom Volk über die Jahrhunderte bewahrten deutschen Geist zu denken und zu handeln: „Das deutsche Volk hat seine Wiedergeburt, die Entwickelung seiner höchsten Fähigkeiten, durch seinen konservativen Sinn, sein inniges Haften an sich, seiner Eigentümlichkeit erreicht: es hat für das Bestehen seiner Fürsten sich dereinst verblutet. Es ist jetzt an diesen, dem deutschen Volke zu zeigen, dass sie zu ihm gehören; und da, wo der deutsche Geist die Tat der Wiedergeburt des Volkes vollbrachte, da ist das [sic] Bereich, auf welchem zunächst auch die Fürsten sich dem Volke neu vertraut zu machen haben. Es ist die höchste Zeit, dass die Fürsten sich zu dieser Wiedertaufe wenden: die Gefahr, in welcher die ganze deutsche Öffentlichkeit steht, habe ich angedeutet. Wehe uns und der Welt, wenn diesmal das Volk gerettet wäre, aber der deutsche Geist aus der Welt schwände!“
Von diesem mahnenden Aufruf ist es nicht weit zu Sachs’ vieldiskutierter Schlussansprache am Ende des 3. Aufzugs. Inwieweit Wagner dabei eine gefährliche Geschichtsklitterung betreibt, soll hier nicht erörtert werden. Entscheidend ist vielmehr, dass das umrissene Gedankengut maßgeblich die Konzeption der Meistersinger bestimmt. Wagner erweitert die Kulturkritik des 19. Jahrhundert um eine politische Dimension. Er definiert Deutschsein über die Abgrenzung vom Fremden und sucht zugleich nach Schuldigen. Schon 30 Jahre zuvor hatte Heinrich Heine auf die xenophobe Engstirnigkeit des deutschen Patriotismus hingewiesen: „Der Patriotismus der Franzosen besteht darin, das sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, dass es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation, mit seiner Liebe umfasst; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.“ (Heinrich Heine, Romantische Schule, 1833) „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen“ warnt denn auch Friedrich Nietzsche gut zehn Jahre nach Wagners Schriften zur deutschen Identitätssuche. „Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein nationales Ansehen gab; bleibt es stehen, verkümmert es, so schließt sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängnis herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist dies ein Beweis, dass es versteinern will und ganz und gar Monument werden möchte: [...]. Der also, welcher den Deutschen wohl will, mag für seinen Teil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. Die Wendung zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.“ (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches) Die Dichotomie „deutsch-undeutsch“ versammelt in Wagners Schriften unter „deutsch“ Begriffe wie Provinz, Kultur, Innerlichkeit, Autorität, Idealismus, Tiefe, Originalität und Schöpfertum, als „undeutsch“ sind dagegen Großstadt, Zivilisation, Äußerlichkeit, Demokratie, Materialismus, Zerstreutheit, Nachahmung oder Ausbeutung konnotiert. „Alle diese negativen Züge, undeutschen Züge fanden sich dann in einer Hassfigur vereinigt: im Juden.“ (Ernst Hanisch)
(5) „Was ist undeutsch?“ – R., der Antisemit
„Es gibt im Wald einen besonderen Vogel, ‚Spötter‘ volkstümlich genannt. Er kann jeden Vogelgesang nachahmen, hat aber keinen eigenen Schlag. Mir ist es, als ob die Juden eine ähnliche, sehr hervorragende Begabung hätten.“
Cosima Wagner an Felix Mottl, 10. Juni 1889
Mehrere Autoren haben Wagners Antisemitismus als ein Gemisch unterschiedlicher, bisweilen sogar widersprüchlicher Vorbehalte entlarvt. Der Jude verkörpert in Wagners Werken und Schriften all das, was der Komponist ablehnte und hasste, wovor er sich ekelte oder fürchtete. Die in ähnlicher Weise diffus gebrauchten Zuordnungen des „Welschen“ und des „Jüdischen“ vereinen in sich das, wovon Wagner das „deutsche Wesen“ abgrenzt. Beide werden zum Synonym für das Undeutsche!
Der Niedergang der deutschen Kunst, die „Schwäche und Unfähigkeit der nachbeethovenschen Periode unsrer deutschen Musikproduktion“ hinterließ laut Wagner eine künstlerische Brache, welche „die sonderbare Erscheinung des Eindringens eines allerfremdartigsten Elementes in das deutsche Wesen“ (Was ist deutsch?) zuließ. „Fremd und teilnahmslos steht der gebildete Jude inmitten einer Gesellschaft, die er nicht versteht, mit deren Neigungen und Bestrebungen er nicht sympathisiert, deren Geschichte und Entwicklung ihm gleichgültig geblieben sind.“ Weil er außerhalb der sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeit steht, kann der Jude, so Wagner, „nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen“ (Das Judenthum in der Musik). Kunst ist nach Wagner ein Produkt der Sprache, Sprache wiederum das Produkt einer historischen Gemeinschaft, und nur diejenigen, die innerhalb einer solchen Gemeinschaft aufgewachsen sind, können an deren Schöpfungen Teil haben. Der europäische Jude steht ausnahmslos außerhalb der Gemeinschaft und hat keine eigene Muttersprache. Während der wahre Künstler und dessen Kunst aus dem Volke geboren werden, wachsen der jüdische Künstler und seine Kunst in der Isolation, abgetrennt von Volk und Gemeinschaft. Der Jude ist demnach unfähig zu wahrhaftem künstlerischen Ausdruck. Er ist das genaue Gegenteil des sich durch alle Jahrhunderte treu gebliebenen „deutschen Geistes“. Keine Kunst aber bietet, so Wagner, in ähnlicher Weise „die Möglichkeit, in ihr zu reden, ohne etwas Wirkliches zu sagen“ wie die Musik, „weil in ihr die größten Genies bereits das gesagt haben, was in ihr als absoluter Sonderkunst zu sagen war. War dieses einmal ausgesprochen, so konnte in ihr nur noch nachgeplappert werden, und zwar ganz peinlich genau und täuschend ähnlich, wie Papageien menschliche Wörter und Reden nachpapeln, aber ebenso ohne Ausdruck und wirkliche Empfindung, wie diese närrischen Vögel es tun“. (Das Judenthum in der Musik) Der Jude hat aufgrund des Mangels an wahren Künstlern das deutsche Musikleben in seine Hand genommen, „und so sehen wir heute ein widerwärtiges Zerrbild des deutschen Geistes dem deutschen Volke als sein vermeintliches Spiegelbild vorgehalten”. (Was ist deutsch?) „Der eigenste Gedanke des deutschen Geistes, seine innigste musikalische Empfindung, wird dem Volke in der Entstellung des spekulativen Judenjargons vorgetragen; jüdische Stück- und Musikmacher versehen das Theater mit ihren Neuigkeiten, und jüdische Rezensenten liefern die Kritik unserer Kunstleistungen.“ (Tagebuchaufzeichnungen für König Ludwig II., 21. September 1865)
Zur Verkörperung des zu wahrer künstlerischer Produktion unfähigen, „nachplappernden“ jüdischen Komponisten stilisiert Wagner Giacomo Meyerbeer, obwohl oder gerade weil der ihn in den für Wagner höchst prekären Pariser Jahren 1839 bis 1842 unterstützt hatte. In überraschender Offenheit gesteht Wagner in einem Brief an Franz Liszt die persönliche Scham als Ursache seiner Aversion gegen Meyerbeer ein: „Ich hasse ihn nicht, aber er ist mir grenzenlos zuwider. Dieser ewig liebenswürdige, gefällige Mensch erinnert mich, da er sich noch den Anschein gab mich zu protegieren, an die unklarste, fast möchte ich sagen lasterhafteste Periode meines Lebens.“ In seiner bereits mehrfach zitierten berühmt-berüchtigten Schrift Das Judenthum in der Musik, deren Auslöser in einem im Jahre 1850 in der Rheinischen Musikzeitung veröffentlichten Pro-Meyerbeer-Artikel des jüdischen Musikschriftstellers Ludwig Bischoff zu suchen ist, entlädt sich eben jener Frust über die schwere Zeit in Paris. Der dem eigenen Schamgefühl entsprungene persönliche Ärger über Meyerbeer wird dabei in höchst bedenklicher Weise verallgemeinert. Unter dem Pseudonym „K. Freigedank“ 1850 in der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlicht, bleibt der Artikel ohne größere Resonanz. 1869 jedoch veröffentlicht Wagner den um ein kurzes Vor- und ein längeres Nachwort erweiterten Artikel als eigenständige Broschüre und ruft damit einen Sturm der Empörung, auch unter Freunden und künstlerischen Weggefährten hervor. Bei Aufführungen der Meistersinger in Wien, Berlin und Mannheim kommt es sogar zu Protesten gegen Wagner und sein Werk.
Als unmittelbarer Auslöser der Wiederveröffentlichung kann eine Meistersinger-Kritik Eduard Hanslicks angesehen werden. Die wahren Gründe, das 19 Jahre alte Pamphlet erneut in Druck zu geben, scheinen jedoch viel tiefer zu liegen: 1862 waren im Großherzogtum Baden die verfassungsmäßige Gleichberechtigung der Juden beschlossen worden, 1864 folgten das Königreich Württemberg und die Freie Stadt Frankfurt, 1867 die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, 1869 schließlich der Norddeutsche Bund. Nicht mehr die ihm als Kind wie Hoffmannsche Spukgestalten erscheinenden „walachisch-moldauisch-polnischen Juden“, die zur Messezeit nach Leipzig kamen, mit ihren langen Pelzröcken und hohen Pelzmützen, den fremdartigen Gesichtern und seitlich herabhängenden Locken waren es, die dem reiferen Wagner Angst machten, sondern die unsichtbaren, weil assimilierten Juden. Gerade ihre fortschreitende gesellschaftliche Integration rief Wagners Gegenwehr hervor, drohte sie doch das reine „deutsche Wesen“ unbemerkt und gleichsam von innen heraus zu verunreinigen. „Ob der Verfall unsrer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könne, vermag ich nicht zu beurteilen, weil hierzu Kräfte gehören müssten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist“, heißt es beängstigend nebulös in Was ist deutsch?. „Soll dagegen dieses Element uns in der Weise assimiliert werden, dass es mit uns gemeinschaftlich der höheren Ausbildung unsrer edleren menschlichen Anlagen zureife, so ist es ersichtlich, dass nicht die Verdeckung der Schwierigkeiten dieser Assimilation, sondern nur die offenste Aufdeckung derselben hierzu förderlich sein kann.“ Die von Wagner direkt oder indirekt attackierten Komponisten Meyerbeer und Mendelssohn-Bartholdy entsprachen ebenso dem Typus des assimilierten, im Falle Mendelssohns sogar getauften Juden wie Wagners Intimfeind späterer Jahre: der Kritiker Eduard Hanslick, der die jüdische Herkunft seiner Mutter zu verschleiern suchte. Die ursprüngliche Absicht, den Merker in den Meistersingern von Nürnberg Veit Hanslich zu nennen und in der Figur den verhassten Komponisten aus Pariser Tagen mit dem nicht weniger verhassten Kritiker aus Wien zu vermischen, lässt abermals die untrennbare Verquickung von Biographischem, Künstlerischem und Politischem im Werk Wagners durchscheinen.
In fast schon grausam sadistisch zu nennender Weise hat das Ehepaar Wagner den jüdischen Dirigenten Hermann Levi, einen begeisterten Interpreten des Wagnerschen Werkes, Dirigent der Uraufführung des Parsifal, bei seinen Besuchen in Wahnfried behandelt – mit respektlosen Andeutungen und Scherzen oder mit Wagners fortwährendem Insistieren, dass Levi sich müsse taufen lassen, um den Parsifal dirigieren zu können. Darin liegt alles andere als der Wunsch nach Assimilation des Rabbinersohns Levi. „Sadistische Demütigung, sentimentale Versöhnlichkeit und vor allem der Wille, den Misshandelten affektiv an sich binden, treten in der Kasuistik von Wagners Verhalten zusammen.“ (Adorno, Versuch über Wagner) Es ist bezeichnend für Wagners Furcht vor der jüdischen Assimilation, dass er nach der ersten Begegnung mit Levi 1871 in Mannheim gegenüber Cosima bemerkt, er respektiere ihn schon deshalb, weil er sich „Levi“ nenne und nicht wie viele Juden seinen Namen in „Löwe“ oder „Lewin“ geändert habe.
Zum Kollektiv des Volkes gehören nach Wagner all diejenigen, die „eine innere Not, einen Drang, ein Bedürfnis“ empfinden. Nicht dazu gehören folgerichtig diejenigen, die diesen Drang nicht empfinden, die aber, so Wagner, „im Verlangen danach prächtig gedeihen“ (d.h. die sich das Verlangen danach zunutze machen). (Das Kunstwerk der Zukunft) Das Jüdische ist für Wagner das, was nicht dazu gehört, das undeutsche Andere, das ausgetrieben werden muss. In seiner Oper über ein Kollektiv, der einzigen seiner Opern, die tatsächlich auch ein Kollektiv im Titel trägt (und nicht etwa „Hans Sachs“ heißt), gewinnt dieses auszutreibende Andere in der Figur des ungeliebten Merkers Beckmesser Gestalt.
(6) „Wer kreischt mit Macht?“ – B., ein Jude?
„Mich holt am Pranger
der Verlanger,
auf luft’ger Steige kaum,
häng’ ich am Baum.“
Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, 3. Aufzug
Immer wieder ist in der Wagner-Literatur bestritten worden, dass die Figur des Sixtus Beckmesser antisemitische Züge trage, nicht nur von jenen Wagner-Exegeten, die keinerlei Verbindung zwischen Wagners antisemitischen Schriften und Äußerungen und seinem musikdramatischen Werk sehen wollen, sondern auch von manchen, die andernorts auf die antisemitischen Stereotype verweisen, mit denen Wagner Figuren wie Alberich oder Mime – sowohl szenisch als auch musikalisch – ausgestattet hat. Dass es im Nürnberg des 16. Jahrhunderts keine Juden gab, weil alle Juden 1499 für mehrere Jahrhunderte aus der Stadt vertrieben worden waren, scheint als Argument nur wenig plausibel. Schließlich erzählt Wagner gerade in den Meistersingern das Heute im Gestern: Trotz aller Beschäftigung mit der Tradition der Meistersinger geht es ihm nicht um historische Authentizität, sondern um die Präsentation höchst gegenwärtiger politischer und künstlerischer Belange. Auch Figuren wie Mime oder Alberich sind alles andere als authentische Portraits von Juden. Was hätten die in der germanischen Mythologie verloren? Vielmehr nutzt Wagner auf durchaus effektvoll zu nennende Weise in seiner Zeit allgemein bekannte antisemitische Klischees, um die Nibelungen, also die „Bösewichter“ seines Rings, als moralisch und körperlich deformierte Charaktere zu zeichnen.
Tatsächlich sind die im Ring für die Nibelungen verwendeten musikalischen Mittel bei Beckmesser nicht zu finden. Im Falle des Merkers erschließt sich die antisemitische Konnotation auf subtilere, wenn auch nicht weniger eindeutige Weise. Es genügt, Wagners politische Schriften der 1860er Jahre aufmerksam zu lesen. Denn Beckmesser verkörpert genau jenes von Wagner in Was ist deutsch?, Deutsche Kunst und deutsche Politik und Das Judenthum in der Musik beschriebene „allerfremdartige Element“ inmitten des „deutschen Wesens“, das unfähig ist zu wahrhaft künstlerischer Produktion, „nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen“, stattdessen „ohne Ausdruck und wirkliche Empfindung“ „nur nachsprechen, nachkünsteln“ kann. Was ist Beckmessers verunglücktes Preislied im 3. Aufzug anderes als der kläglich gescheiterte Versuch, Walthers Vorlage künstlerisch auszuformulieren? Beckmesser, unfähig, den tieferen Sinn von Walthers Poesie zu verstehen, muss scheitern, weil er „fremd und teilnahmslos inmitten einer Gesellschaft steht, die er nicht versteht.“ Er kann die Vorlage also nur ohne Sinn und tieferes Verstehen „nachpapeln“. Genau so zeichnet ihn Wagner ungeachtet der Tatsache, dass er rein faktisch als Stadtschreiber natürlich Teil der Nürnberger Bürgerschaft ist und obendrein auch noch zur privilegierten Gemeinschaft der Meistersinger gehört.
Als sich der erste Sänger des Beckmesser, der österreichisch-ungarische Bass-Bariton Gustav Hölzel, über die (für einen Bass-Bariton) vielen hohen Töne in der Partie des Merkers beklagte, antwortete ihm Wagner, dass „diese komische Charakterrolle in keiner Weise mit einer Bass-buffo-Partie alten Stiles zu vergleichen“ sei. „Die musikalisch hohe Tonlage resultiert einzig aus dem leidenschaftlichen, kreischenden Sprachton, in welchem das Meiste herauszubringen ist. […] Unter keinen Umständen könnte mir eine normale Baritonstimme hierzu dienen, weil dann alles einen falschen, weichen Charakter erhielte.“ Anders als bei den Nibelungen werden in der Figur Beckmessers die antisemitischen Stereotype also von Wagner nicht musikalisch ausnotiert, sondern auf Stimmqualität und Interpretation und auf den politisch-kunsttheoretischen Unterbau verlagert. Auf die kreischende Stimme des Merkers weisen denn auch die aus ihrem Schlafe geweckten Bewohner Nürnbergs hin, wenn sie sich am Ende des 2. Aufzugs echauffieren: „Wer kreischt mit Macht? … Heult, kreischt und schreit an and’rem Ort.“
Kein anderer Charakter der Meistersinger hat zwischen dem ansonsten dem späteren Libretto erstaunlich nahen ersten Prosaentwurf aus dem Jahre 1845 und dem zweiten von 1861 eine derartig tiefgreifende Umgestaltung erfahren wie die Figur des Merkers. Im Entwurf von 1845 wird der Auftritt beim Sängerwettstreit im 3. Aufzug mit drei lapidaren Sätzen bedacht. Erst in den beiden Prosaentwürfen von 1861 und dem Libretto von 1862 erhält die unfreiwillig lächerliche Darbietung des nur mühsam festen Stand auf unebenem Boden findenden, schwitzenden Beckmesser all jenes „schmückende Beiwerk“, das den Merker als ohne Verstand und künstlerisches Empfinden nachplappernden Außenseiter zum bösartigen Gespött der Leute werden lässt. Nicht von ungefähr liegt zwischen dem ersten und zweiten Prosaentwurf eben die Veröffentlichung von Das Judenthum in der Musik! Gleich im 1. Aufzug des endgültigen Librettos verleiht Wagner mit der Anspielung auf das bekannte Grimm-Märchen vom „Juden im Dorn“ Walthers Unwillen über den pedantischen Merker einen antisemitisch gefärbten Nebensinn: „In einer Dornenhecken, / von Neid und Gram verzehrt, / musst’ er sich da verstecken, / der Winter“, singt Walther. Und wie um auch keinen im Zweifel zu lassen, worauf hier angespielt wird, lässt Wagner ihn noch ein „grimm-bewehrt“ hintanstellen.
„Wir können uns auf der Bühne keinen antiken oder modernen Charakter, sei es ein Held oder ein Liebender, von einem Juden dargestellt denken, ohne unwillkürlich das bis zur Lächerlichkeit Ungeeignete einer solchen Vorstellung zu empfinden“, schreibt Wagner in Das Judenthum in der Musik. Der Jude ist laut Wagner in seiner künstlerischen Äußerung also per se lächerlich. Nicht anders stellt sich Beckmesser in all seinen künstlerischen Äußerungen dar. Sein Ständchen im 2. Aufzug strotzt nur so vor auch für einen musikalischen Laien offensichtlichen Fehlern, allen voran die zahlreichen falschen Betonungen auf unbetonten Silben und die überaus schlechten Reime. Wie, fragt man sich, hat er es nicht nur zum Meistersinger, sondern obendrein zum Merker gebracht? Auf eine derartige Logik aber kommt es Wagner nicht an. Der Merker steht als Repräsentant einer von Wagner verabscheuten Bevölkerungsgruppe. Und als solcher gibt ihn der Komponist brutal der Lächerlichkeit preis.
„Wagners Humor springt grausam um“, heißt es in Theodor W. Adornos Versuch über Wagner. „Dass es bloßes Spiel sei, hilft stets zur Rationalisierung des Schlimmsten. Auf sie spricht Wagner in den Märchen der deutschen Überlieferung an. Keines steht ihm näher als das vom Juden im Dorn. ‚Wie er nun mitten in den Dornen steckte, plagte der Mutwille den guten Knecht, dass er seine Fiedel abnahm und anfing zu geigen. Gleich fing auch der Jude an, die Beine zu heben und in die Höhe zu springen; und je mehr der Knecht strich, desto besser ging der Tanz.‘ So verfährt Wagners Musik als guter Knecht mit seinen Bösewichtern, und die Komik ihrer Qual gibt nicht bloß dem Lust, der sie verhängt, sondern erstickt auch die Frage nach dem warum und proklamiert den stummen Vollzug als gebietende Instanz.“
Warum aber tut Beckmesser sich dies alles an?, mag man fragen. Warum will er Eva so unbedingt erringen? Nicht weil er den Preis als bester Meistersinger erringen will – zweimal bittet er Pogner um einen anderen Weg zum ersehnten Ziel. Die Antwort auf diese Frage gibt uns Wagner indirekt in seinen politischen Schriften: Weil er als „allerfremdartiges Element“ durch die Heirat mit Pogners Tochter auf Anerkennung hofft. Weil er ein gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft sein will – mit den anderen, innerhalb der anderen … assimiliert! Genau damit aber ist Wagners größte Angst benannt!
Ist Walther von Stolzing der wahre Künstler der Zukunft, dem mit seinem Preislied aus spontaner, eben nicht erlernbarer Inspiration das scheinbar Unmögliche gelingt: Das Kunstwerk der Zukunft, die von Wagner so ersehnte Wiedervereinigung von Sprache, Musik und Darstellung – so verkörpert Beckmesser das komplette Gegenbild zu dieser strahlenden Utopie allein schon dadurch, dass man in jedem Moment die im künstlerischen Prozess steckende Arbeit spürt, in unschöner Weise förmlich zu riechen scheint: Ähnlich wie Alberich und Mime wird laut Regieanweisungen offenbar auch Beckmesser immer wieder von übermäßiger Transpiration gequält. Die Gemeinschaft aber, die laut Wagner nur „durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes“ (Was ist deutsch?) den Verfall ihrer eigenen Kultur aufhalten kann, benötigt letztlich das Andere, Fremde, das sie auszutreiben versucht, um sich selbst zu definieren. Ohne den grotesken, von allen verlachten Auftritt Beckmessers wäre der von Sachs forcierte Auftritt Walthers überhaupt nicht möglich geworden. Über die Negation des Uneigenen gelangt das Kollektiv zur Affirmation des Eigenen – ganz wie Wagner in seinen politischen Schriften, und im persönlichen Bereich: Er braucht den devot ihm ergebenen Hermann Levi, um über die an Sadismus grenzende Demütigung und Diskriminierung sich seiner selbst immer wieder aufs Neue zu versichern! Das Andere, Uneigene aber kann beschimpft und verlacht, jedoch nicht ausgelöscht werden, denn dann würde der Gemeinschaft die Folie zur Selbstdefinition fehlen. Es muss ein abgesonderter Teil des Kollektivs bleiben, ghettoisiert, für jeden als „anders“ erkennbar. Nur so kann die Gemeinschaft es unter sich dulden und dabei gleichzeitig die Gefahr einer die Kultur und Gesellschaft von innen heraus zersetzenden Assimilierung bannen. Beckmesser wird nach seinem unrühmlichen Vortrag nicht aus Nürnberg vertrieben, er, so die Regieanweisung, „verliert sich unter dem Volke“, bleibt unter ihnen, wenngleich sicherlich in Zukunft ärmer an Ansehen und Respekt.
„In der Musikalischen Zeitung ist ein Bericht über die Aufführung der Msinger in Wien“, schreibt Cosima Wagner unter dem 14. März 1870 in ihr Tagebuch. „Unter anderem hatten die J. [die Juden] dort verbreitet, das Lied vom Beckmesser sei ein altes jüdisches Lied, welches R. habe persiflieren wollen. Hierauf Zischen im 2ten Akt und die Rufe, wir wollen es nicht weiter hören. Jedoch vollständiger Sieg der Deutschen.“ Wagners Zeitgenossen hatten die „jüdische Färbung“ des Merkers offenbar unmittelbar verstanden.
(7) Mittelalter, Festumzüge, Reichsparteitage – N., ein Paradies?
Auf der Suche nach Sängern für sein Ensemble verschlug es Wagner als frischgebackenen musikalischen Leiter des Theaters Magdeburg im Jahre 1835 auch nach Nürnberg, wo er bei Schwester Klara und deren Gatten Heinrich Wolfram logierte. Schwager Heinrich nahm den 22-jährigen Wagner mit in eine Gastwirtschaft, in der sich der Nürnberger Tischlermeister Lauermann zum Gelächter seiner Stammtischbrüder gern als Sänger produzierte. Man stellte den unbekannten Wagner als den großen italienischen Gesangsstar Lablache vor, um Lauermann zu einer Demonstration seiner Gesangskunst zu überreden, was – nach anfänglichem Zögern Lauermanns – auch gelang: „Die Lippen bebten, die Zähne knirschten, das Auge verdrehte sich konvulsivisch, und endlich erscholl von heiserer, fetter Stimme ein ungemein trivialer Gassenhauer“, alsbald erstickt vom „unmäßigen Gelächter sämtlicher Zuhörer“ (Mein Leben). Am Ende des für alle außer Lauermann höchst vergnüglichen Abends fuhr man den volltrunkenen Tischlermeister in einer Schubkarre nach Hause. Bei der Rückkehr zum Gasthaus stieß man auf eine Gruppe von Handwerksburschen, die vom Wirt nicht mehr hereingelassen wurden. „Aus dieser Situation entstand nun eine Verwirrung, welche durch Schreien und Toben sowie durch unbegreifliches Anwachsen der Masse der Streitenden bald einen wahrhaft dämonischen Charakter annahm. Mir schien es, als ob im nächsten Augenblick die ganze Stadt in Aufruhr losbrechen würde.“ (Mein Leben) „Diese nächtliche Schlägerei prägte sich Wagner unvergesslich ein: die Prügelszene der Meistersinger profitierte von ihr. Und hatte er in Lauermann nicht auch schon ein Stück Beckmesser gesehn?“ (Martin Gregor-Dellin)
„Ich begann, die mir zugeteilte Rolle [des Lablache] selbst mit möglichstem Geschick zu spielen ...“, berichtet Wagner im Rahmen seiner „Lauermann-Anekdote“. – Da ist er wieder: der leidenschaftliche Schauspieler und Rezitator Wagner, der alles zum Theaterspiel werden lässt. Auch im Schauplatz der Meistersinger fließen autobiographische Erlebnisse des Menschen Wagner mit politischem und kunsttheoretischem Gedankengut des Denkers und Künstlers Wagner zusammen. Nürnberg nimmt gerade in den politischen Umwälzungen in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts eine besondere Rolle ein. Wie kaum eine andere deutsche Stadt ist die Stadt an der Pegnitz seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zur Projektionsfläche für künstlerische, historische und politische Sehnsüchte und Visionen geworden.
Als Aufbewahrungsort der Reichskleinodien (der Herrschaftsinsignien der Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation) zwischen 1423 und 1796 kommt der Reichsstadt Nürnberg eine zentrale Bedeutung innerhalb des Deutschen Reiches zu. Ihre Blütezeit, bedingt durch ausgezeichnetes Handwerk und die für den Handel günstige Lage, erlebt die Stadt, die als erste deutsche Stadt bereits 1525 protestantisch wird, im 16. Jahrhundert. Künstler wie der Bildhauer Veit Stoß, der Spruchdichter und Dramatiker (und Schuhmacher) Hans Sachs oder der Maler Albrecht Dürer sind Zeugen des blühenden künstlerischen Lebens Nürnbergs, das zu jener Zeit zu den größten Städten des Heiligen Römischen Reiches zählte. Der Dreißigjährige Krieg besiegelt dann den bereits zuvor einsetzenden wirtschaftlichen Niedergang der Stadt. Ende des 18. Jahrhunderts ist vom einstigen Glanz nicht mehr viel übrig. Gleichwohl hat sich die mittelalterliche Struktur der Stadt erhalten und bildet den Ausgangspunkt einer neuen Bedeutungszuweisung.
Entscheidend sind hierbei die 1796 unter dem Titel Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders erschienenen kunsttheoretischen Aufsätze von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck, die in einer Art romantisierender Nostalgie die einstige Größe Nürnbergs in Erinnerung rufen: „Nürnberg! Du vormals weltberühmte Stadt, wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen, mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altväterlichen Häuser und Kirchen, denen die feste Spur von unsrer alten vaterländischen Kunst eingedrückt ist! Wie innig lieb ich die Bildungen jener Zeit, die eine so derbe, kräftige und wahre Sprache führen! Wie ziehen sie mich zurück in jenes graue Jahrhundert, da du, Nürnberg, die lebendig wimmelnde Schule der vaterländischen Kunst warst und ein recht fruchtbarer, überfließender Kunstgeist in deinen Mauern lebte und webte: – da Meister Hans Sachs und Adam Kraft, der Bildhauer, und vor allen Albrecht Dürer mit seinem Freunde Willibald Prickheimer und so viel andre hochgelobte Ehrenmänner noch lebten! Wie oft hab ich mich in jene Zeit zurückgewünscht.“ Für die deutschen Romantiker repräsentiert Nürnberg eine Art nationaler Authentizität, die während der Barockzeit und der Aufklärung verloren gegangen war, als man sich allzu sehr nach Frankreich orientierte. Nürnberg wird zum Inbegriff eines nicht mehr existierenden Deutschtums. „Die Periode der eigenen Kraft ist vorüber“, heißt es in den Herzensergießungen, und an anderer Stelle: „kalte, gedeckte, charakterlose Werke sind die Frucht“. (Wagner war mit seinen Theorien einer allgemeinen Kulturdekadenz durchaus ein Kind seiner Zeit.) Die Sehnsucht nach dem spätmittelalterlichen Nürnberg ist das Verlangen nach dem besseren, dem wahren Deutschland, das einmal war, aber nicht mehr ist. Das Nürnberg von einst wird zum verlorenen Paradies.
Der sich an Nürnberg entzündende „Nostalgietrip“ ins deutsche Mittelalter treibt historisierende Stilblüten, zunächst in Bayern, alsbald aber in ganz Deutschland: In Anlehnung an das aus Anlass der Heirat König Ludwigs I., Großvater Ludwigs II., mit Therese von Sachsen-Hildburghausen im Oktober 1810 stattfindende Volksfest mit Festumzug in historischen Kostümen des Mittelalters (Ursprung des Münchener Oktoberfestes) werden im ganzen Land National- und Volksfeste mit derartigen historischen Umzügen veranstaltet. Der Zusammenhang zwischen dem Hang zur historischen Rückschau und der politischen Situation des in Hunderte von Einzelstaaten zerfallenen Deutschen Reiches liegt auf der Hand: Das stolze Zelebrieren historischer Traditionen legt Zeugnis ab von der Suche nach der eigenen nationalen Identität. Wagner hat den überall (natürlich auch in Nürnberg!) stattfindenden historischen Festumzügen des 19. Jahrhunderts mit dem Beginn der Festwiesen-Szene seiner Meistersinger ein musikalisches Denkmal gesetzt. Für seine Zeitgenossen besaß der Einzug auf der Festwiese also eine wesentlich politischere Bedeutung als für nachfolgende Generationen. Die historische Gewandung ist nichts als ein zu jener Zeit gebräuchliches Mittel zur politischen Stellungnahme. Historie wird von und für die Gegenwart (und auch für die Zukunft) instrumentalisiert.
Bereits 1815 hatte der Erlanger Philosophie-Professor Alexander Lips in seinem Essay Die deutsche Bundesstadt Nürnberg als neue Hauptstadt für den Deutschen Bund vorgeschlagen. Obwohl Lips’ Vorschlag ungehört bleibt, wird Nürnberg für viele Verfechter einer nationalen Einigung zur symbolischen Hauptstadt des geteilten Vaterlandes. Mitten in den kriegerischen Auseinandersetzungen des Deutschen Krieges rät Wagner in einem Brief vom 24. Juli 1866 König Ludwig II., seine Residenz von München nach Nürnberg mit seiner „aufgeklärten und freisinnigen Bevölkerung“ zu verlegen. „Wissen Sie, was jetzt dieses wunderliche, alte Nürnberg mir heißt?“, schreibt er dem König im November desselben Jahres. „Es ist die Stätte des ‚Kunstwerks der Zukunft‘, der Archimedes-Punkt, auf welchem Wir die träge Welt des versumpften deutschen Geistes aus der Axe heben wollen!“ In Nürnberg also soll der viel zitierte, ach so vernachlässigte „deutsche Geist“ seine Wiedergeburt – als Phönix aus dem Sumpf – erfahren.
Der romantischen Tradition folgend malt Wagner Nürnberg als (verlorenes) Paradies. Zahlreich sind die direkten verbalen Anspielungen in dieser Richtung, sei es Sachs’ Vergleich von Evas Flucht im 2. Aufzug mit der biblischen Flucht aus dem Paradies, sei es die in Walthers Preislied besungene Verschmelzung von Garten Eden und Parnass. Nürnberg ist das Paradies der selbstbestimmten Bürger! Adlige, ja selbst ein Bürgermeister kommen hier bezeichnenderweise nicht vor. Nicht einmal beim großen Volksfest im 3. Aufzug lässt sich der Schultheiß der Stadt blicken. Auch hier geht es Wagner nicht um historische Authentizität, sondern um eine Setzung, die auf die Gegenwart zielt. Wagners Gegenwart und das 16. Jahrhundert werden in seinen Meistersingern fortwährend überblendet. „Die Meistersinger kokettieren mit jenem Brauch der älteren Malerei, das räumlich und zeitlich Entlegene mit Spätgeborenen, Einheimischen zu bevölkern. Das Weib aus Nürnberg wird zu Johannes dem Täufer an den Jordan entsandt. Eine endlose Tradition von Kitsch hat an die Manier solcher Wagnerschen Allegorese aus zweiter Hand sich angeschlossen. Aber der Anachronismus ist mehr als gespielte Naivetät [sic] und kunstgewerbliche Archaik. In jener heiteren Oper klingt jede Gegenwart, als wäre sie bereits Erinnerung.“ (Adorno, Versuch über Wagner)
Ganz in diesem Sinne zelebrieren auch die Reichsparteitage der Nationalsozialisten die Gegenwart durch die Verbindung mit der Vergangenheit. Was letztlich der ausschlaggebende Grund dafür war, dass die Wahl auf Nürnberg für die Austragung der Parteitage fiel, ist am Ende unerheblich. In jedem Fall knüpfen die Nationalsozialisten bewusst an die symbolische Bedeutung Nürnbergs für den Nationalgedanken an und verleiben sie der eigenen Geschichtsdeutung ein: „Wir wollen damit zugleich anknüpfen an die große Vergangenheit und bekunden, dass unsere Bewegung nichts anderes ist als die Fortsetzung nicht nur deutscher Größe, sondern auch deutscher Kunst und deutscher Kultur. Wir wollen damit aber auch bekunden, dass es gilt, dass unsere Bewegung sich selbst ihre eigene Tradition schaffe.“ (Adolf Hitler auf dem Reichsparteitag 1933 in Nürnberg) Hitler sieht sein Drittes Reich in der Nachfolge des (ersten) Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (962-1806) und des (zweiten) Deutschen Kaiserreichs (1871-1918). Und das mit Bedeutung aufgeladene Nürnberg bietet die perfekte Kulisse für die Weiterführung und gleichzeitige Neugestaltung der Tradition. An der Ausgestaltung dieses im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entstandenen Nürnberg-Bildes, das wenig zu tun hat mit der historischen Realität, hat Wagner mit seinen Meistersingern keinen geringen Anteil. Die Nazis nehmen denn auch immer wieder gerne Bezug auf Wagners „geniale Zusammenfassung von deutscher Schwermut und Romantik, von deutschem Stolz und deutschem Fleiß“ (Joseph Goebbels), sei es dass 1935 zur Begrüßung Hitlers in der Nürnberger Stadthalle der „Wach auf“-Chor aus dem 3. Aufzug erklingt, sei es dass Gauleiter Julius Streicher im August 1938, drei Monate vor der Reichspogromnacht, den Befehl zum Abriss der Nürnberger Synagoge am Hans-Sachs-Platz (!) mit den Worten „Fanget an!“ gibt. Im Jahre 1935 wird der Reichstag zum 7. Reichsparteitag extra nach Nürnberg bestellt, um dort das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ zu verabschieden, das die Ehe und jeden außerehelichen sexuellen Kontakt zwischen „Deutschblütigen“ und Juden verbietet und zusammen mit dem ebenfalls verabschiedeten Reichsbürgergesetz unter dem Sammelbegriff der „Nürnberger Rassengesetze“ in die Geschichte eingegangen ist.
Für die alliierten Gegner Nazi-Deutschlands waren Wackenroders/Tiecks Herzensergießungen ebenso wenig von Belang wie Wagners Meistersinger. Symbolische Bedeutung besaß Nürnberg für sie einzig und allein als „Stadt der Reichsparteitage“. Beim größten Luftangriff auf Nürnberg am 2. Januar 1945 warfen die Bomber der Royal Air Force 1.825 Tonnen Spreng- und 479 Tonnen Brandbomben über dem Stadtgebiet ab. Die Nürnberger Altstadt mit ihrer historischen Bausubstanz war vollkommen zerstört. „Die Stadt ist verschwunden! Es ist nur noch ein riesiger Trümmerhaufen, kaum zu beschreiben und wohl kaum wieder aufzubauen. Die Altstadt ist zu 99 Prozent ‚tot‘“, schreibt der amerikanische Journalist William Shirer, der 1946 als Beobachter der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse in die Stadt kommt. Nürnberg, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werbeträchtig als „des Deutschen Reiches Schatzkästlein“ bezeichnet, die heimliche Hauptstadt des geteilten Reiches, die Stadt der Reichsparteitage und der Nürnberger Gesetze, wurde zur Stadt des bis dahin größten Kriegsverbrechertribunals der Geschichte. Wagner und seine Meistersinger hatten damit freilich nichts zu tun. Oder doch?
(8) „Ich bin verklagt und muss bestehn“ – Angeklagter R. Wagner
Im Verlaufe des Entnazifizierungsprozesses gegen Winifred Wagner, Ehefrau von Wagners einzigem Sohn Siegfried und Leiterin der Bayreuther Festspiele von 1930 bis 1944, wurde auch Hitlers Liebe zu Wagners Musik und die Frage, ob Hitler überhaupt Musikverständnis besessen habe, erörtert, schließlich kam auch Richard Wagners Antisemitismus zur Sprache. Die Tatsache, dass Punkt III der Anklageschrift gegen Winifred Wagner auf „Zur-Verfügung-Stellung des Erbes Richard Wagners der ideologischen Weltanschauung des Nationalsozialismus zur propagandistischen Auswertung“ lautete, wirft Fragen auf, die den Rahmen rein historischer Schuldzuweisung zu sprengen scheinen: Können bzw. dürfen die Äußerungen oder Werke Richard Wagners in einen Zusammenhang mit ihrer Präsentation während des Nationalsozialismus gebracht werden? Ist in ihnen Gedankengut enthalten, das der nationalsozialistischen Ideologie Vorschub leistete? Winifred Wagners Verteidigungsschrift formulierte es so: „Glaubt man etwa, dass ein Hörer im Herbst 1948 in New York bei einer Ring-Aufführung etwas anderes empfindet, als was der deutsche Hörer in Bayreuth 1937 oder später empfunden hat? Oder will der Herr Kläger vielleicht behaupten, dass der Besucher des Ringes, des Tannhäuser, der Meistersinger oder gar des Parsifal, ganz eingenommen von den Klängen des Werkes, sich eingestehen musste, die Betroffene sei eine fanatische Nationalsozialistin?“ (Zitiert nach: Walter Schertz-Parey, Winifred Wagner. Ein Leben für Bayreuth)
Die eingangs gestellte Frage, inwieweit bei der Interpretation künstlerischer Werke die Heranziehung biografischer Fakten aus dem Leben des Komponisten sinnvoll und zulässig ist, inwieweit politische Äußerungen des Komponisten zum Verständnis und zur Deutung eines Werkes nicht nur herangezogen werden können, sondern geradezu müssen, erhält in diesem Zusammenhang eine noch weiter reichende Dimension. Die Frage der Beurteilung von Kunst wird zur Frage nach dem Urteil über Kunst: Wer kann und wer darf wann und wie über Kunst und Musik urteilen? Wann ist ein Künstler für das verantwortlich zu machen, was mit seiner Kunst passiert? Und: Kann Musik per se unmoralisch sein? Und wenn ja – ist sie dann zu verurteilen?
In den Meistersingern wird die Kunst unablässig vor Gericht gestellt: Im 1. Aufzug sitzen Beckmesser und die Meistersinger zu Gericht über Walthers „Bewerbungslied“. Angeführt von dem zum vorsitzenden Richter bestellten Merker (den Sachs zu Recht der Befangenheit zeiht), fällt ihr Urteil vernichtend aus: „Versungen und vertan!“ Im 2. Aufzug erhebt sich Sachs selbst zum alleinigen Richter über Beckmessers Ständchen für Eva. „Mit dem Hammer auf den Leisten halt’ ich Gericht.“ – Der Hammer des Schusters wird zum gnadenlos niederfahrenden Hammer eines unerbittlichen (und allzu schadenfrohen) Richters. Die Verhandlung endet unvorhergesehen in allgemeinem Tumult, in dem der angebliche Delinquent ordentlich Dresche erhält, bis der Saal schließlich geräumt wird. Im 3. Aufzug schließlich wird Beckmesser endgültig der Prozess gemacht. Dieses Mal sitzt die versammelte Stadtgemeinschaft zu Gericht und gibt ihn zur Strafe der allgemeinen Lächerlichkeit preis. Mit den Worten „Ist jemand hier, der Recht mir weiß? / Der tret als Zeug’ in diesen Kreis!“ ruft Sachs Walther in den Zeugenstand. Da aber hat Beckmesser längst den Gerichtssaal verlassen. „Wagners Humor springt grausam um“, schrieb Adorno. „Nicht bloß wird der arme Teufel verspottet, im Rausch, den das Lachen über ihn entfacht, geht das Gedächtnis an das Unrecht unter, das ihm widerfährt. Die Suspension des Rechts im Lachen wird erniedrigt zur Sanktionierung des Unrechts. […] Der Witz setzt widerspruchslos den ins Unrecht, über den er ergeht, diffamiert die Zartheit als Streberei und verklärt die Roheit [sic!] als genialische Ursprünglichkeit.“ Und so endet Wagners Oper erschreckend unreflektiert. Eine szenische Versöhnung zwischen Sachs und Beckmesser ist eine Idee gutmeinender Regisseure, weder in der Musik noch im Libretto deutet irgendetwas auf eine derartige Versöhnung hin. Stattdessen endet das Werk mit einer bedingungslosen Apotheose der Kunst, oder genauer: der deutschen Kunst! Wird am Ende von Albert Lortzings 1840 in Leipzig uraufgeführter (und Wagner bekannter) Oper Hans Sachs Kaiser Maximilian vom Volk mit Jubelchören gefeiert, so gelten die Heil-Rufe des Volkes am Ende der Meistersinger Sachs selbst, und damit der Kunst im Allgemeinen – und Wagner im Besonderen.
Mit keinem anderen Komponisten ist die Nachwelt ähnlich ins Gericht gegangen wie mit Richard Wagner. Die Vorlage dazu hat der Komponist freilich selbst geliefert. Unablässig hat Wagner sein Urteil über Zeitgenossen in den unterschiedlichsten Bereichen kundgetan, und war dabei selten umsichtig oder gar diplomatisch. Er selbst, der sich zu so vielen Themen und Fragestellungen seiner Zeit in teilweise provokativer Art und Weise geäußert und all seine Aussagen immer auch auf sein künstlerisches Werk bezogen hat, fordert förmlich dazu heraus, zur Beurteilung seiner musikdramatischen Werke sein gesamtes Werk, einschließlich der theoretischen Schriften, ja einschließlich biografischer Details heranzuziehen. Er, der die gefährliche Verquickung von Politik und Kunst selbst in sein Werk getragen hat, muss es sich gefallen lassen, dass er selbst zum Zeugen in eigener Sache berufen wird. „Wagner hat die antisemitische Gesinnung mit anderen Vertretern des von Marx so genannten deutschen Sozialismus um 1848 gemein. Aber sein Antisemitismus bekennt sich als individuelle Idiosynkrasie, die verstockt aller Verhandlung sich entzieht. Sie stiftet den Wagnerschen Humor. Aversion und Gelächter treten wortfeindlich zusammen.“ (Versuch über Wagner) „Ich lese eine sehr gute Rede des Pfarrers Stoecker über das Judentum“, notiert Cosima Wagner unter dem 11. Oktober 1879 in ihr Tagebuch. „R. ist für völlige Ausweisung. Wir lachen darüber, dass wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden [gemeint ist die Erstveröffentlichung von Das Judenthum in der Musik im Jahre 1850] den Anfang dieses Kampfes gemacht hat.“ Als „Vorbote des Antisemitismus“, noch bevor der Begriff in den Wortschatz von Gesinnungsgenossen wie Wilhelm Marr, Otto Glagau oder Paul de Lagarde überhaupt Einzug erhielt, hat Wagner als einflussreiche Person des öffentlichen Lebens durchaus den Nährboden für spätere Entwicklungen bereitet. „Seine Zurückhaltung, sein Zurückschrecken vor den praktischen Konsequenzen seiner Gesinnung“, schreibt der israelische Sozialhistoriker Jacob Katz, „zeugt davon, dass er sich der Problematik bewusst war. Seine historische Verurteilung beruht also keineswegs auf der nachträglichen Einsicht des Historikers, sondern ergibt sich aus dem richtigen Verständnis seiner eigenen Aussagen und Handlungen. Wagner selbst sitzt zu Gericht über Wagner und ist außerstande, sich den historischen Freispruch zu erteilen.“
Die Meistersinger von Nürnberg
In drei Aufzügen
Libretto: Richard Wagner
Originalsprache: Deutsch
Uraufführung: 21. Juni 1868 München
Personen
Hans Sachs, Schuster (Bassbariton)
Veit Pogner, Goldschmied (Bass)
Kunz Vogelsang, Kürschner (Tenor)
Konrad Nachtigall, Spengler (Bass)
Sixtus Beckmesser, Stadtschreiber (Bariton)
Fritz Kothner, Bäcker (Bass)
Balthasar Zorn, Zinngießer (Tenor)
Ulrich Eislinger, Würzkrämer (Tenor)
Augustin Moser, Schneider (Tenor)
Hermann Ortel, Seifensieder (Bass)
Hans Schwarz, Strumpfwirker (Bass)
Hans Foltz, Kupferschmied (Bass)
Walther von Stolzing, ein junger Ritter aus Franken (Tenor)
David, Sachsens Lehrbube (Tenor)
Eva, Pogners Tochter (Sopran)
Magdalena, Evas Amme (Mezzosopran)
Ein Nachtwächter (Bass)
Handlung
Nürnberg, Mitte des 16. Jahrhunderts.
Erster Akt
Der fränkische Ritter Walther von Stolzing ist Gast des reichen Goldschmieds Veit Pogner. Er hat als Letzter seiner Familie die Burg verlassen und ist nach Nürnberg gekommen, um hier das Bürgerrecht zu erlangen. Beim Gottesdienst in der Katharinenkirche erblickt er Pogners Tochter Eva und ist von ihr bezaubert. Er erfährt von ihrer Amme Magdalena, dass ihr Vater sie demjenigen zur Braut bestimmt habe, der am folgenden Tag beim öffentlichen Wettstreit der Meistersinger den Preis erringe. Als Eva erkennen lässt, dass sie ihn oder keinen erhören will, lässt er sich von David, dem Lehrbuben des Hans Sachs, das Wesen und Wirken der Meistersinger und ihre komplizierten Regeln erklären, während die anderen Lehrbuben die Kirche für die Zunftberatung der Meistersinger vorbereiten. Walther ist entschlossen, den Preis zu gewinnen und bittet Pogner, ihn in die Zunft aufzunehmen, was von dem gleichzeitig eintretenden galligen Stadtschreiber Beckmesser, einem Mitbewerber um Evas Hand, mit Misstrauen aufgenommen wird.
Nach dem Eintreffen aller Meistersinger ergreift Pogner das Wort und erklärt den Anwesenden seinen der Liebe zur Kunst entsprungenen Entschluss, sein einziges Kind dem Sieger im Wettgesang zur Ehe zu geben (»Das schöne Fest Johannistag«). Hans Sachs äußert Bedenken, gibt sich jedoch damit zufrieden, dass Eva das Recht haben solle, den Gewinner abzulehnen; sie müsse dann aber ledig bleiben. Nun wird Walther den Meistern als neuer Bewerber vorgestellt, der den zweifelnden Bürgern erklärt, die Sangeskunst durch die Bücher des Walther von der Vogelweide und in der Natur von den Vögeln erlernt zu haben (»Am stillen Herd«).
Er muss ein Probelied singen, das von Beckmesser als dem strengen »Merker« beurteilt werden soll, indem er jeden Fehler mit Kreide auf einer Tafel verzeichnet. Nachdem ihm Fritz Kothner noch einmal die Regeln der »Tabulatur« erklärt hat, singt Walther ein strahlendes Lied von Liebe und Lenz (»Fanget an – so rief der Lenz in den Wald«), das von Beckmesser durch stetiges Kratzen mit der Kreide gestört und von den Meistern wegen seiner Neuartigkeit völlig missverstanden wird – er hat »versungen und vertan«. Während die Meister erregt die Kirche verlassen, bleibt Hans Sachs sinnend zurück – er fühlt, dass dies ein Fehlurteil aus Unverständnis der an die starren Regeln glaubenden Meistersinger ist.
Zweiter Akt
Auf der Straße vor den Häusern Pogners und Sachsens tanzen abends die Lehrbuben. David berichtet seiner Freundin Magdalena von dem Versagen des Ritters, was sie heimlich der eben mit ihrem Vater heimkehrenden Eva zuflüstert. Pogner erklärt seiner Tochter die Bedeutung des morgigen Wettsingens. Sie aber ist zerstreut und zieht den Vater trotz des schönen milden Abends rasch ins Haus. Hans Sachs hat seinen Arbeitstisch ins Freie gestellt, doch der Sommerabend und die Gedanken an das Erlebte lassen ihn nicht los (»Was duftet doch der Flieder«). Es ist dunkel geworden, Eva schleicht aus dem Haus und will Sachs über das Abschneiden des Ritters beim Probesingen ausfragen. Durch geschickte Antworten und Fragen erfährt Sachs von Evas Liebe zu Walther. Gewiss hat er, der Witwer, manchmal daran gedacht, selbst Eva zu erringen, doch nun will er den Liebenden helfen, was er Eva allerdings noch nicht merken lässt. Als er ihr derb von Walthers Versagen berichtet, verlässt sie ihn enttäuscht. Als Magdalena ihr erzählt, dass Beckmesser ihr ein Ständchen bringen will, tauscht sie mit ihr die Kleider, damit Magdalena für sie die lästige Serenade entgegennehme.
Walther, der nach seinem Versagen beim Probesingen nicht mehr an seinen Erfolg glaubt, eilt herbei, um Eva zur gemeinsamen Flucht zu überreden, was von Hans Sachs, der dies belauscht, dadurch verhindert wird, dass er aus seinem Haus einen Lichtschein auf die Straße fallen lässt. Beckmesser erscheint gerade jetzt, um sein Ständchen zu bringen. Die Liebenden verbergen sich im Schatten einer Linde und werden Zeugen eines seltsamen Spiels: Sachs hat seinen Arbeitsplatz wieder vor das Haus verlegt und stört den Gesang des verliebten Beckmessers durch ein von lauten Hammerschlägen begleitetes, beziehungsreiches Lied (»Jerum, jerum, hallo, hallo, he«), in dem von der schlimmen Eva im Paradies die Rede ist, in der wiederum die deshalb etwas betretene Eva unter der Linde sich zu erkennen glaubt. Beckmesser ist über die Störung seiner Serenade, hinter der er – nicht ganz zu Unrecht – eine Bosheit des Schusters vermutet, wütend. Nach kurzem Streit einigen sie sich dahin, dass Sachs den »Merker« spielen und mit Hammerschlägen auf die Schuhe, an denen er arbeitet, die Fehler im Lied Beckmessers markieren soll. Der beunruhigte Stadtschreiber verstößt dabei so oft gegen die Regeln der Tabulatur, dass Sachs am Ende des Lieds mit den Schuhen – es sind Beckmessers eigene – ganz fertig geworden ist. Durch den Lärm sind die Nachbarn geweckt worden. David erkennt am Fenster von Pogners Haus seine Magdalena und stürzt sich wütend auf den vermeintlichen Nebenbuhler Beckmesser. Rasch entspinnt sich eine allgemeine Prügelei, in deren Verlauf Eva in ihrem Haus verschwindet und der Ritter Walther von Sachs in sein Haus gebracht wird. Das Horn des Nachtwächters beendet die gespenstische Szene, bald ist die mondbeschienene Straße wieder friedlich und verlassen.
Dritter Akt
Am sonnigen Johannismorgen sitzt Hans Sachs in seiner Werkstatt und empfängt freundlich die Namenstagswünsche seines wegen der nächtlichen Prügelei noch zerknirschten Lehrbuben David. Er versinkt in tiefes Sinnen über die menschlichen Schwächen (»Wahn, Wahn, überall Wahn«). Walther von Stolzing kommt nach kurzer Ruhe in die Stube und erzählt Sachs von einem schönen Traum, den er auf Anregung des Meisters gleich nach den Regeln der Kunst in Verse setzt. Daraus soll ein Meisterlied für den Wettgesang werden. Der begeisterte Sachs schreibt das Gedicht mit.
Als der Schuster Walther aus dem Raum geleitet hat, erscheint der völlig zerschlagene, geprügelte, hinkende Beckmesser und stiehlt vom Tisch das Gedicht, das er in blinder Wut für ein Werbelied des Hans Sachs hält. Als der Schuster wieder in die Stube kommt, überschüttet Beckmesser ihn nach anfänglicher geheuchelter Freundlichkeit mit bitteren Vorwürfen, muss jedoch gleichzeitig zugeben, das Gedicht eingesteckt zu haben. Als Sachs ihm versichert, nicht zum Wettgesang antreten zu wollen und ihm das Gedicht sogar schenkt, »damit er kein Dieb sei«, wandelt sich Beckmessers unstetes Gefühl in übertriebene Freundlichkeit. Rasch will er nach Hause eilen, um es noch zu lernen.
Festlich gekleidet erscheint Eva, von Schuldgefühlen gegenüber dem verständnisvollen Sachs geplagt. Doch dieser führt ihr nun Walther zu, den Evas schöner Anblick zum letzten Vers seines Meisterliedes inspiriert. Eva bekennt Hans Sachs ihre aufrichtige Zuneigung. Er versteht es, seine innere Bewegung hinter ironischen Worten zu verstecken. Magdalena und David treten ein und erfahren von Sachs die Geburt einer neuen Meisterweise; die »Morgentraumdeutweise« soll sie heißen. David wird durch eine Ohrfeige zum Gesellen geschlagen. Alle sind ergriffen und bewegt (Quintett »Selig wie die Sonne«).
Auf der Festwiese an der Pegnitz ziehen die Abordnungen der Zünfte in feierlichem Marsch ein. Hans Sachs wird vom Volk bejubelt (Chor »Silentium! ... Wach auf!«). In einer ernsten Ansprache weist er auf den Sinn des Wettgesangs hin (»Euch macht ihr's leicht«). Dann werden die Kandidaten aufgerufen. Beckmesser hat das Gedicht völlig missverstanden und trägt es so verdreht vor, dass ihn das versammelte Volk auslacht und verhöhnt. Wütend bezeichnet er Hans Sachs als Verfasser der unsinnigen Verse, dieser jedoch weist den Vorwurf zurück und behauptet, das Lied sei schön, wenn es nur richtig gesungen werde. Als Zeugen dafür ruft er den wahren Dichter der Verse auf: Nun tritt Walther von Stolzing in den Kreis und trägt das Lied gleich einem Hymnus für Eva mit höchster Vollendung vor (»Morgendlich leuchtend im rosigen Schein«).
Unter dem Beifall der Menge will Pogner ihn nun in die Zunft der Meistersinger aufnehmen, doch Walther hat die Ablehnung vom gestrigen Tag noch nicht ganz verwunden und will die Ehrenkette zurückweisen. Ohne Meisterwürde will er allein mit Eva selig sein. Da tritt Sachs dazwischen und hält Walther mit eindringlichen Worten die Bedeutung des Meistertums für die deutsche Kunst vor Augen (»Verachtet mir die Meister nicht«). Alle feiern jubelnd Hans Sachs und seine Weisheit (»Ehrt eure deutschen Meister«).
Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus:
© Harenberg Kulturführer Oper,
5. völlig neu bearbeitete Auflage,
Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus